Die lieben Kollegen…
In einem Zeitungsartikel der Welt Kompakt vom 8.Mai 2019 lese ich über die Restaurierung der Briefleserin von Vermeer und auch in der ZDF Mediathek gibt es darüber einen dreiminütigen Beitrag.
Anscheinend muss man sich als Künstler und Künstlerin vor seinen Kollegen und Kolleginnen fürchten, denn es gibt eine Kritik die ohne Worte Fakten schafft. So ist es unserem geschätzten Kollegen Jan Vermeer (1632 – 1675) ergangen, der das heute sehr berühmte Gemälde „Briefleserin am offenen Fenster“ wahrscheinlich in den Jahren 1657 – 1659 gemalt und aus seinem Atelier in die weite Welt entlassen hat.
Ein Malerkollege hat sich irgendwann nach dem Tod Vermeer’s an seinem Bild zu schaffen gemacht und Teile einfach übermalt! Da hat einer entschieden: „So wie es ist, ist es nicht gut – und so, wie ich das jetzt mache, ist es besser: Das hier muss ganz weg und ich nehme diesen Farbton dafür“. Wer macht so was und aus welchem Grund? Da erhebt sich einer über die Kunst eines anderen. Ganz schön respektlos und dreist, auch wenn dieses Bild damals vielleicht als ein Werk eines unbedeutenden Künstlers gegolten haben mochte und es vielleicht auch gerade deswegen übermalt worden ist.
Der 28-jährige Robert Rauschenberg (1925 – 2008) hat 1953, zu Beginn seiner Karriere, eine Zeichnung seines 20 Jahre älteren und zu diesem Zeitpunkt bekannteren Künstlerkollegen Willem de Kooning (1904 – 1997) ausradiert, de Kooning überließ seinem Kollegen seine Zeichnung aber genau für diesen Zweck. Die beiden haben sich über diese Aktion also ausgetauscht. Und das ausradierte Werk hängt dann freilich auch schön ausgestellt im San Francisco Museum of Modern Art und bekundet somit nicht nur, dass Rauschenberg nicht viel von der Zeichnung als künstlerischem Ausdruckmittel hielt, sondern auch wie der Kunstmarkt so funktioniert.
https://www.sfmoma.org/artwork/98.298/?ds_rl=1263130&gclid=EAIaIQobChMIqv66lLKv5AIVhaoYCh1RJwxSEAAYASAAEgLKWfD_BwE
Vermeer selbst geriet nach seinem Tod in Vergessenheit, er war lange Zeit nicht der große bekannte Meister, der er heute ist. Bereits 70 Jahre nach seinem Tod wurde seine Urheberschaft an dem Bild in Frage gestellt und verschiedenen anderen Kollegen, berühmteren wie unberühmteren, zugesprochen. Und hier wird es dann wohl auch gefährlich für das Bild, das viele Abenteuer in der Welt erlebt und überstanden hat. Die ganze Welt kennt die Version die seit Jahrzehnten in der Dresdner Gemäldegalerie zu bestaunen war: Das still in sich gekehrte Mädchen, das am Fenster steht und einen Brief liest, im Hintergrund eine monochrome Wand, die als ruhige Kulisse das Insichgekehrtsein des Mädchens unterstreicht. Durch Röntgenaufnahmen aus den Siebzigerjahren weiß man, dass die Handstellung korrigiert worden ist und dass in einer früheren Version von dieser Wand im Hintergrund ein Cupido den Betrachter direkt in die Augen sah. Immer ist man davon ausgegangen, dass Vermeer selbst diese Korrekturen an seinem Bild selbst vorgenommen hat.
Aber Materialuntersuchungen haben ergeben: Die Farbe, mit der der Cupido übermalt worden ist, stammt nicht aus den Lebzeiten von Vermeer! Die Übermalung erfolgte in den 70 Jahren nach dem Tod von Vermeer, denn als der sächsische Kurfürst August III. dieses Bild für seine Hofsammlung 1742 erwerben ließ, kaufte er bereits, die uns allen bekannte Bildversion. Nun hat sich eine Fachgemeinschaft von Restauratoren für den originalen Vermeer entschieden: Nach 250 Jahren zählt also endlich wieder der Wille des Künstlers. Und den gilt es nun neu kennen zu lernen. Denn wir wissen bislang nur, welche Wirkung der Übermaler erzielen wollte, nicht aber, was sich Vermeer bei seiner Version eigentlich gedacht hat.
(Ute Wöllmann – Akademieleiterin / Galeristin / Malerin / Autorin / Bloggerin)