Zeichnen heißt sehen
Die Sommerferien sind vorüber. Noch bevor nächste Woche der Betrieb der Akademie für Malerei Berlin wieder volle Fahrt aufnimmt, fanden heute bereits zum ersten Mal nach den Ferien die Kinder- und Jugendlichenmalkurse statt.
Ich lege großen Wert darauf, den Kindern und Jugendlichen das Zeichnen beizubringen. Ich finde das Zeichnen gehört wie Schreiben, Rechnen und Lesen können zu den Grundfertigkeiten, die den Kindern bereits in der Grundschule vermittelt werden sollte. Gerade in dem Alter sind die Kinder sehr erpicht darauf zu erfahren wie ein Moped / ein Drache / ein Astronaut / ein Schloß usw. zu zeichnen „geht“. Zeichnen bedeutet genaues Hinsehen. Man schult seine Wahrnehmung durch Zeichnen. Viele Dinge fallen einem erst auf, wenn man zeichnet. Die letzte halbe Stunde in diesen Kursen ist deshalb für das Zeichnen reserviert. Meist zeichne ich auch mit. So auch heute.
In der Galerie ROOT wird gerade die Ausstellung „ZwischenMenschen“ mit realistischen Bildern der Akademie-Absolventin Sabine Kybarth und mit Skulpturen des Südtiroler Bildhauers Hermann-Joseph Runggaldier aufgebaut. Wunderschöne Skulpturen, meist aus Holz, denn Runggaldier stammt aus einem Holzschnitzer-Dorf in Südtirol, hat dort sein Handwerk erlernt und zur Meisterschaft geführt.
Wir knöpften uns einen 95 cm hohen nackten Knaben aus Holz vor und versenkten uns in die Betrachtung. Durch das Zeichnen und das genaue Hinsehen wurde mir die Meisterschaft dieser Skulptur so richtig vor Augen geführt, wie spannungsvoll und dennoch zart die Körperkontur die anmutige, aber verschämte Haltung herausstellt. Wie wunderschön diese Skulptur in ihrem anrührenden Ausdruck gearbeitet ist. Toll! So klar und einfach stand der Knabe vor uns mit seiner leichten Körperdrehung, die bis in den Fußspitzen fortgeführt wird, der eine große Zeh leicht über den anderen, seinem durchgedrückten Bäuchlein, seiner anmutigen und spannungsvollen Haltung, beide Hände übereinander auf seiner linken Schulter abgelegt, den Kopf zu den Armen geneigt, die linke Wange an einem Unterarm.
„Der ist aber schwer“, sagte einer der Jugendlichen. Und in der Tat, ja, es war schwer. Und wenn auch unsere Zeichnungen weit hinter der Meisterschaft der Skulptur zurückblieben, so haben wir dennoch eine Zeitlang ganz genau hingesehen. Und das bleibt. Am Donnerstag um 19 Uhr ist die Vernissage. Kommen Sie doch und schauen Sie sich die Skulpturen und die Bilder der Ausstellung einmal ganz genau an!
(Ute Wöllmann – Akademieleiterin / Galeristin / Malerin / Autorin / Bloggerin)
Titelbild // Bild01: Bleistiftzeichnung von Ute Wöllmann von der Skulptur „Knabe“ von Hermann Joseph Runggaldier.